RAUSCHEN
Kunsthalle 8000, Wädenswil
7. November 2020 bis 14. Februar 2021
«Rauschen» ist etwas, das kaum fassbar ist. Der Begriff bezeichnet nicht richtig Definierbares oder Greifbares. «Rauschen» ist eine Zwischenwelt, die der Künstler Luigi Archetti vorwiegend im Spannungsfeld zwischen Klang und Stille erkundet und zwischen hörbaren, sichtbaren und mentalen Welten künstlerisch umsetzt. In freier Form führt Archetti das Thema «Rauschen» mit seinen ureigensten Themen über die Wechselwirkungen der vordergründig unterschiedlichen Kunstgattungen der visuellen Kunst und der experimentellen Musik zusammen. So offenbart sich das Rauschen der Ausstellung als Reise durch drei Räume und drei Klangwelten.
Vor dem Reisebeginn, gleich beim Eingang, begegnen wir jedoch einem Bild aus der Serie «No backstage passes» (2014), das gleich auf mehreren Ebenen ein Bilderrauschen suggeriert. Eine schlecht gedruckte Seite aus einer alten Musikzeitschrift wird mit Kunstharzfarbe übermalt, darüber wird noch einmal ein Foto geprintet. Das Bild einer Bassistin ist kaum erkennbar. Die übereinander gelegten Schichten zeigen Unkenntlichkeiten – Rauschen statt Klarheit.
Der erste Raum bleibt stumm. Er birgt aber visuelle Erzählungen von Tönen, Noten und Sounds und aktiviert in unseren Köpfen ein mentales Rauschen. Wir befinden uns in einem Raum, in dem nichts erklingt.
Der Titel der Installation in der Mitte des Raums, «Mic Drop», bezeichnet das bewusste Fallenlassen des Mikrofons am Ende einer Performance, popularisiert in den 80er Jahren durch die Rap-Kultur. Ein Mic Drop konstatiert: «Ich habe alles gesagt, das wars» und ist ein Hinweis auf die Klanglosigkeit des Raums. Archetti zeigt uns gleich zwei fallen gelassene Mikrofone, die jeweils auf zwei Schallplatten in Teppichform gefallen sind. Teppich wie Schallplatten verweisen auf den Turntable, den Plattenspieler eines DJs. Drei absente Personen (zwei Rapper und einen DJ) sind damit in einem paradoxen Kreislauf miteinander verbunden. Was bleibt ist der Nachhall after the show.
Ähnlich auch in den 9 kleinen Bildern, «Partituren (Töne und Kartoffeldrucke)» die mit der archaischsten Form des Drucks, mit Kartoffelstempeln, vermeintliche Noten auf Papier wiedergeben. Wie alle Partituren-Bilder Archettis wollen auch die vorliegenden Bilder nicht eine synästhetische Wirkung hervorrufen (also nicht bewirken, dass man beim Betrachten innere Klänge hört), sondern über eine Zeichensprache ein Gefühl für die Musik herstellen.
«Noten I» und «Noten III» (2018) sind zwei grosse, fünfteilige Gemälde, die beide mit den fünf Notenlinien spielen. Was sich in den «Partituren» kammerspielartig entfaltet, zeugt auf den Gemälden von grosser Lautstärke. Nicht zufällig finden sich auch das Bild eines Megafons bzw. eines Kugellautsprechers auf den Gemälden.
Im Rücken all dessen hängt die Installation «Snare» an der Wand. Das Trommelfell einer Snaredrum, schwarz bemalt, verfremdet und damit genau so stumm wie die anderen Werke. Hier werden schwarze Kreise, die in allen Werken im ersten Raum ihre Bedeutung haben, auf den (schwarzen) Punkt gebracht.
Im zweiten Raum erfährt das Thema des Rauschens überraschende klangliche wie ästhetische Umsetzungen. Die drei grossformatigen Bilder «Rauschen I», «Rauschen II» und «Rauschen III» führen uns in eine Welt des Mikro- und zugleich Makrokosmos. Ausgangslage für die Abbildungen sind Staubpartikel, die sich auf Vinyl-Schallplatten ablagern und üblicherweise Rauschen produzieren. Durch die enorme Verschiebung der Grössenverhältnisse entstehen allerdings Gemälde, die einen neuen Raum öffnen und den Blick in die Weiten des Universums ebnen - unendliche Weiten des Rauschens.
Die thematische Klammer von Staub und Rauschen führt die Installation «Musik für Staub (kreisförmig)» weiter. Sie zeigt drei rotierende Scheiben, zwei in hellroter bzw. leuchtgelber Farbe, eine in einem matteren Grünton. Die Scheiben schleifen Ketten dem Boden entlang, die sowohl den Staub abtasten, wie auch je einen Gitarrenhals zum Erklingen bringen. Die unüblichen Stimmungen der Gitarren (Scordatura-Stimmung) klingen im Zusammenspiel bewusst dissonant und verleihen so auch dem Welt-Raum der Gemälde zusätzliche Intensität. Dadurch ergänzt der Staub des Bodens und der rotierenden Scheiben den Staub der Bilder.
Ergänzt werden die beiden grossen Werke des Raums durch ein weiteres Palimpsest-Bild aus der Reihe «No backstage passes», das mit seinen Übermalungen und Pigmenten der Idee von Staub und Rauschen wiederum ein figuratives Bild, die Rückenansicht einer Frau in Lederjacke, existenziell in Frage stellt. Sehen wir die Vergangenheit (einer Musikzeitschrift) nicht längst als Erinnerungs-Bilderrauschen?
Der schmale Gang, der aus der Ausstellung auf direktem Weg zurück führt zum Eingang der Kunsthalle 8000 bietet noch einmal einen Shortcut zum Thema und zur Ausstellung. Die zweiteilige, stumme Videoarbeit «Rauschen» zeigt auf der einen Seite eine tänzelnde Lautsprecher Membrane, mit der die Begriffe zum Thema «Rauschen» auf der anderen Seite ironisch kommentiert werden. Die Verhältnisse werden zum Tanzen gebracht. Das verdeutlicht die Vielfalt der Begriffen aus der Welt der Technik, der Anatomie, der Medizin usw. bis hin zur Kunst. Denn last but not least: Wer das Wort «Rauschenberg» als humoristische Einlage versteht, mag Recht haben – doch Archettis Ausstellung weist auch deutliche Bezüge zur Rezeption von Stille («White Paintings») und Wahrnehmung («Black Paintings») in Robert Rauschenbergs Werk auf.
Michael Kathe, Telos Stiftung