Rezension: Kunstbulletin 1-2 / -2017
Luigi Archetti — Musik für Reifenspuren
Luigi Archettis Werke bauen ein vielfach verschachteltes System von Referenzen und Interaktionen auf. Sein Blick auf die sonore und visuelle Welt fordert unsere gesicherten Vorstellungen von Wahrnehmung heraus. Betörend entführt er uns, Grenzen zu überschreiten und in der Simultaneität von Sehen und Hören die Erfahrung von Welt neu zu erleben.
Endlos kreist ein Filzstift auf einem sich drehenden Plattenteller, gefilmt von einer vertikal montierten Kamera. Diese ist mit einem Monitor verbunden, der die Aktion wiedergibt. ‹Circuit›, 2010, zeigt paradigmatisch den Reflexionsraum von Luigi Archettis Schaffen auf: das beständige Kreisen um Fragen nach der Bildlichkeit von Ton einerseits, dem Klang von visuellen Medien andrerseits, und die komplexe Suche, dies fass- und erlebbar zu machen. Archettis Installationen arbeiten häufig mit Bühnensituationen und enthalten neben Zeichnung und Malerei auch Video- und Soundelemente. So entstehen dichte und mehrschichtige Räume, komplexe referentielle Systeme. Der Raum wird als Erfahrungs- und Resonanzkörper begriffen, in dem verschiedene Impulse – visuelle wie tonale – einander begegnen und in konstruktive Interferenzen münden.
Circuit und System
‹Closed Circuits› lautet der Titel der soeben eröffneten Ausstellung von Archetti im Kunstraum Baden. Analog zum oben besprochenen Werk inszeniert der Künstler den Ausstellungsraum als geschlossenen Kreislauf, nur fliesst Strom hier höchstens metaphorisch. Vielmehr ist es der Sound, der alle Arbeiten verknüpft. Die einzelnen Werke funktionieren als unabhängige Systeme, die miteinander interagieren, sich auch stören und so produktive Dissonanzen erzeugen. «Ich verstehe die Ausstellung als System, in dem ich vielschichtige und kaleidoskopisch verschachtelte Verweise schaffe. Die Simultaneität einer visuellen und sonoren Welt erzeugt Polyphonie. Ich peile verschiedene Wahrnehmungsmodi und Erfahrungsräume an.» Ein zentrales Werk befindet sich gleich am Anfang der Ausstellung, der Film ‹Apodemica II›, 2016, der aus 35 Videosequenzen besteht. Archetti unternahm diesen Sommer eine längere Studienreise nach Amerika, und er thematisiert hier das Reisen und damit verbunden die Erfahrung von Orten. Daher rührt auch der Titel: Apodemik bezeichnet die Wissenschaft des Unterwegsseins. «Während der Reise liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem Hören und Beobachten. Vor allem auf dem Registrieren von Nebenszenarien, von alltäglichen Besonderheiten und von Momenten des Nicht-Auffälligen und Nicht-Plakativen. Die Aufmerksamkeit ist auf das Zusammenspiel der sonoren und der visuellen Welt fokussiert. Ich beobachte die unmittelbare Umgebung über das Ohr und ich höre das Umliegende über die Augen.»
Archetti reagiert mit seiner E-Gitarre performativ auf den vorgefundenen Ort. Die Gitarre wird als Soundlieferantin eingesetzt, der jeweils erzeugte Klang nimmt direkten Bezug zum Ort. In der Betrachtung dieser äusserst reduzierten und ohne narrative Handlung inszenierten Sequenzen stellen sich Fragen nach der Wahrnehmung von Umwelt, deren visuellem und akustischem Potenzial und den Botschaften, Symbolen und Gefühlen, die sie portiert. Welcher Sound ist einem spezifischen Ort inhärent? Wie entsteht durch die performative Interaktion ein Klang- und Ortserlebnis, das die Betrachterin, den Betrachter aktiviert?
Komposition und Leerraum
Archettis Interesse gilt den Randgebieten der Musik, dem nicht restlos Kontrollierbaren. Nebengeräusche, Klangflächen oder Soundstrukturen spielen eine wichtige Rolle. Mit konzeptueller Stringenz erschafft er etwas Grundlegendes: den potenziellen Raum, in dem mit grösstmöglicher Offenheit Interaktionen und Interferenzen zwischen sonorer und visueller Welt entstehen. Jedes Werk folgt einer klaren Komposition und unterläuft diese sogleich wieder. Die Arbeiten sind eine Art Übergansobjekte, in dem Sinn, dass sich ihre Bedeutungsebenen ständig überschreiten, unterlaufen oder erweitern. Exemplarisch zeigt dies die grosse Zeichnungsserie ‹Partitur (Carona, New-York, Maine USA)›, 2016. Vor einer schrill-gelb gestrichenen Wand im Ausstellungsraum Baden breitet sich ein Konvolut von Blättern aus, das über den Titel vorgibt, die Aufzeichnung einer mehrstimmigen Musik zu sein. Visuell wird eine musikalische Komposition behauptet. Handelt es sich hier um eine bildliche Umsetzung von Musik? Oder steht jedes Blatt für einen akustisch gestimmten Raum?
Schraffuren, Striche, Linien formieren sich zu Verdichtungen und Räumen, krümmen und ballen sich und streben zueinander und voneinander weg. Es sind nicht determinierte Räume, sie erlauben vielschichtige Deutungsmöglichkeiten. Obwohl wir uns nie in einem wirklichen Leerraum befinden, setzen Archettis Arbeiten vielfach einen solchen an den Beginn, einen Leerraum verstanden als Offenheit, als eine Art Lücke oder Hohlraum. Raum und Bild werden so von vorgefassten Bedeutungen befreit, um dann neu gesehen, gehört und interpretiert zu werden. In der Installation ‹Spiritus›, 2015, stehen sich zwei Druckkammer-Lautsprecher gegenüber. Zu hören ist immerfort links das Einatmen und rechts das Ausatmen des Künstlers. Diesem mächtigen Bild der Lautsprecher steht die ephemere Handlung des Atmens gegenüber. Der Körper ist gleichzeitig an- und abwesend, nicht mehr in seiner definiert physischen Form, vielmehr als ebendieser Leerraum, der durch die Präsenz und Teilnahme des Betrachters mit Bedeutung gefüllt wird. War der Künstler bis anhin lediglich durch sein Instrument oder, wie oben, durch seine Stimme oder den Atem präsent, so eröffnet der Film ‹Singing There, Singing Here›, 2016, einen neuen Erzählstrang. Der Gitarrist tritt selbst auf und das spielerische Moment, das beispielsweise auch in der Serie der ‹Pickguards›, 2016, aufscheint, wird hier sehr direkt umgesetzt. Archetti hat in Sizilien eine Marionette nach seinen Körpermassen und mit seiner bei Performances üblichen Kleidung anfertigen lassen. Der kleine Gitarrist spielt die gleiche Fender Telecaster wie Archetti. In der Art von Videoclips baut der Künstler in sechs Kapiteln einen lakonisch vorgetragenen Erzählstrang auf. Wir folgen der wandfüllend projizierten Marionette und ihrer eigentümlichen Performance, bis zum Schluss beide, die Puppe und der Künstler, im Bild aufscheinen. Die Rollen beginnen sich zu vermischen, Archetti tritt als Produzent, Komponist, Musiker und Spieler auf. Hier denkt ein Künstler auf hintersinnige und vergnügliche Weise über Rollen und Spiel, über die Macht der Bilder und der Musik nach. Immer wieder ist es die Simultaneität von Klang und Bild, die Archetti verhandelt, seine Werke sind musikalisch strukturiert und komponiert, die Bilder werden durch überlagerte Tonspuren manipuliert und vice versa. Daraus ergibt sich ein komplexes, aber auch spielerisch-sinnliches Moment der Erfahrung von Welt.
Daniela Hardmeier, Kunsthistorikerin und Kuratorin